Tag 9 Montreal – Ottawa

Bonjour Montreal! Nach einem erholsamen Restday in dieser französischen Metropole beladen wir unser Dieselpferd und machen uns auf nach Ottawa. „Endlich“, wie Tobias sagt. Der Wechsel von Montreal nach Ottawa bringt nämlich auch den Wechsel von der Provinz Québec zur Provinz Ontario. Wir können also aufhören französisch, bzw. québecoise zu sprechen, was wir natürlich alle fließend beherrschen. Nur Tobi hatte schon in den USA angekündigt, sich Land und Leuten gänzlich zu verwehren. Da er ein Semester in Chile studiert hat, ist ihm der Mund eher nach Felipe als nach Macron gewachsen. Wir können sagen, dass er das Französische tatsächlich vollständig abgelehnt hat. Place d’armes hat er zu Plaza de Armas umdeklariert, lieber kein Bier bestellt, als eins auf französisch. Chapeau!

Nachdem wir diese Zone Tobias‘ Abneigung nun verlassen haben, zeigen sich auch die ersten Anfänge des Indian Summer. Unter die grünen Blätter mischen sich immer häufiger auch solche in rot und braun, ein erster Vorgeschmack auf das gar so bunte Zusammenwirken in dieser Region wird uns eröffnet, bevor wir morgen in den Algonquin Nationalpark rollen und hoffentlich eine unberührte Welt voller Farben vorfinden.

Heute allerdings führt uns die Straße zunächst nach Ottawa, die Hauptstadt Kanadas. Auf dem Weg dorthin machen wir Halt an einem Rastplatz, wie er nicht deutlicher kanadisch sein könnte. Es gibt ein Tim Hortons, ein Harveys, die Einheimischen tragen rote Holzfäller Hemden und essen Donuts. Hätte jemand das Licht ausgeschaltet, wären sie wohl alle in Panik ausgebrochen (vgl. Vorurteile über Kanada). Bevor wir im Tim Hortons von unserer Bedienung erfahren, dass seine Mutter aus dem Schwarzwald stammt, fragt Willi, seines Zeichens Busfahrer, ob unser Gefährt durch den McDrive passt. Nein, er tut es nicht.

Hinten im Bus macht sich Glückseligkeit breit. Woran das liegt? Alkohol. Nachdem Tim2 (Tim Möllenhoff, ja wir haben ein Tim Problem) am Vortag gänzlich auf Brause verzichtet hatte, ist nun sein großer Tag gekommen. Im Verbund mit Patti Willeke genießt er die Fahrt durch die Waldbezirke Ontarios aufs Äußerste. Ob dies auch mit dem heutigen Geburtstag von Mama Möllenhoff zusammenhängt, erfahren wir nicht, den obligatorischen Geburtstagsanruf hat Tim2 aber ordnungsgemäß abgeliefert. Kühli gilt bald hin als Universal Geleerte (Pun intended), für Tim0 und das Quiz leider etwas zu spät. Sobald wir die Stadt Ottawa erreichen, läuft selbstverständlich nur noch „Hands Up“ von den Ottawans.

Wir steigen aus und erkunden bei einem ersten Ausflug die Stadt. Plötzlich wird in Windeseile die vor uns liegende Kreuzung gesperrt. Uniformierte Maschinengewehre deuten uns, dass hier kein Durchkommen ist. Kurz darauf rauscht eine Kolonne von mehreren dunklen SUVs an uns vorbei – der ukrainische Präsident Selenskyj ist in der Stadt. Wir überlegen kurz, einen Sticker auf die vorbeifahrenden Autos zu kleben, aber er wird uns wohl auch so erkannt haben. Unser Präsident Rudi ist mit Schutzmann a.D. Beppo Krois ebenfalls gut bewacht, auf eine Rede im Parlament hat er heute aber keine Lust. Wir überlassen die Bühne gänzlich der ukrainischen Sache und widmen uns der nächsten Terrasse.

Dort angekommen werden wir schnell als Deutsche enttarnt. Was denn unser Lieblingsbier wäre, werden wir gefragt, woraufhin Biergartenbetreiber Julian Hölscher in einen halbstündigen Monolog verfällt. Er beendet den Sermon mit der Feststellung, dass er sich doch eine gewisse Expertise in Sachen Bier anmaßt. „Anmaßung ist das richtige Wort“, quittiert Tobias Müller, dessen Vorname ihm bei ostwestfälischer Aussprache schon häufig zwei Bier eingebracht hat (Two Beers/Tobias, once again, Pun intended). Davon hatte er an diesem Nachmittag offensichtlich auch schon gekostet, denn beim Bezahlen der Rechnung weist Tobi mich darauf hin, dass ich ihm von gestern ja noch Geld schulde. Ich blicke ihn entgeistert an, kann mich an besagte Begebenheit und meine mangelnde Liquidität nicht erinnern. Tim0 klärt das Missverständnis auf. Anders als zunächst behauptet hat Tobi keine Forderungen bei mir offen, sondern muss noch Verbindlichkeiten bei Tim0 begleichen – so schnell wendet sich das Blatt.

Nach dem kurzen Umtrunk am Ottawa Fluss brechen wir auf zur Stadtrundfahrt. Abermals begrüßt uns eine Dame jenseits der 70, Geschichtsinteresse scheint hier wohl mit Alter einherzugehen. Anders als noch gestern versteht Agnes ihr Handwerk und weiht uns in die Geheimnisse ihrer Wahlheimat Ottawa ein. Nach einem Stopp im Museum der kanadischen Geschichte halten wir im Gouverneurs Park. Hier pflanzt jeder hohe Gast einen eigenen Baum, wie Agnes uns erzählt. Unsere Präsidenten von Weizsäcker und Gauck sind ebenfalls vertreten und auch Christkind Tobi Müller überlegt, eine Tanne in die Erde zu bringen. Brennholzverleih Hübener scheint ebenfalls schon da gewesen zu sein, denn wir sehen auch einige Baumstümpfe. Auch Michail Gorbatschow war schon hier, wie uns ein Schild am Fuße des vor uns stehenden Baumes verrät. Erst Jahrzehnte zurückliegend, scheint uns die Welt nun eine gänzlich andere zu sein. Hatte Gorbatschow die ehemalige Sowjetunion mit seiner Politik des Glasnost und Perestroika noch an den Westen angenähert und aus dem Kommunismus geführt, muss an diesem schönen Septembertag im Jahr 2023 ein ukrainischer Präsident für die Verteidigung gegen russische Expansionsfantasien werben. Wer die Geschichte des slawischen Teils Europas kennt, kann beim Baum Gorbatschows nur die Hände ringen, er selbst dreht sich bei den aktuellen Begebenheiten wohl im Grabe um – verrückte Welt, man hat aus der Geschichte offensichtlich nichts gelernt.

Auf dem Rückweg zum Bus versuche ich ein wenig Abstand zwischen mich und die Erlebnisse der letzten Tage zu bringen. Einige schöne Etappen liegen noch vor uns, und doch ist der Großteil der Reise bereits wie im Flug vergangen. Bislang läuft alles wie geplant, es reiht sich Höhepunkt an Höhepunkt. Die Gruppendynamik sowie die Verbindung aus Alt und Jung könnte besser nicht sein und treibt mir bei weiterer Reflexion die Gänsehaut auf den Rücken – schon spannend, wie 50 Charaktere mit unterschiedlichsten Hintergründen so gut zusammenwirken. Vor mir gehen Steffen und Herman the German – zwei Vertreter der jeweils unterschiedlichen Altersklassen. „Wann bist du denn noch gleich geboren?“ fragt Hermann. „Oktober 1999“ ist die Antwort. „Da war ich gerade von der Steubenparade Philadelphia zurück“, erwidert Hermann. Rund 20 Jahre später wandern die beiden geeint durch Ottawa, im Alter gar so weit entfernt, in der Sache zusammengebracht. Ein Beispiel für gelebte Kameradschaft, die wesentlichen Werte unseres Vereins werden von den alten Hasen ans Jungvolk weitergeben und fördern die Generationen übergreifenden Freundschaften.

Agnes läuft im Bus zu Hochformen auf. Sie Schimpft über Eichhörnchen, die ihr Vogelfutter fressen, lausige Künstler, die das Stadtbild verschandeln und über Beamte, die am heutigen Freitag mit ihrem viel zu frühen Feierabend den Straßenverkehr erschweren. Der Bus bricht in schallendes Gelächter aus, schließlich sitzen mit den Eheleuten Melcher und mir gleich mehrere Vertreter des Öffentlichen Dienstes, übrigens nach Studenten das zweite Objekt Lothars Abneigung, neben und hinter ihr. Agnes macht ihren Job wirklich hervorragend, wird nur von einer links-rechts Eskapade meinerseits verwirrt, die ich mir wohl bei Dagmar zugezogen habe. Seniorenmomente gibt es eben auch schon Mitte 20.

Nach der Stadtrundfahrt schließt sich selbstverständlich eine zu Fuß Tour an. Abgesehen von Lincoln und Boston haben wir schon über die gesamte Reise hinweg traumhaftes Wetter, was sich auch nun fortsetzt. Am Bymarket nehmen wir feinste Speisen zu uns, bevor wir im Pub 101 versinken. Hier kann nicht nur gemütlich getrunken werden, im Oberstübchen tobt auch eine wilde Fete von Engineering Studenten. Die Bedienung überzeugt mit ausladenden Servicequalitäten. Hier schließen wir uns gerne an, schließlich haben wir mit Tobi und Flori auch zwei Maschinenbaumaster, Nixkönner, um das Vokabular von Lothar zu bemühen, bei uns. Die ein oder anderen „Kontakte“ entstehen hier. Florian M. hat als leidenschaftlicher Feuerwehrmann schon so einige Firedepartments auf dieser Reise besucht, die jedoch nicht mit diesem Feierdepartment mithalten können (once and for all, Pun intended).

Wir tanzen uns die Füße wund, halten auf dem Rückweg noch kurz bei der ewigen Flamme Ottawas und fallen trunken vor Glücksseligkeit ins Bett.