An diesem schönen Septembermorgen fällt das Aufstehen besonders schwer, denn die Party mit den Engineering Students war unglaublich gut. Auch wenn Ottawa unsere Erwartungen an diese Regierungsstadt bei weitem übertroffen hat, sind alle Reiseteilnehmer nahezu pünktlich um 8:15 Uhr am Bus und es bleibt niemand zurück. Einige von uns sind leider etwas angeschlagen ob der uns stets begleitenden Klimaanlagen, anderen von uns steht der Kater unmissverständlich ins Gesicht geschrieben. Trotz der körperlichen Ausfallerscheinungen ist die Stimmung gut, wir blicken schließlich noch zwei Etappen mit den Höhepunkten Nationalpark und Niagara Falls entgegen. Mit diesem freudigen Hintergedanken machen wir uns auf in Richtung Huntsville.
Der erste Stopp wird bei einem Walmart eingelegt, um die lebenserhaltenden Notwendigkeiten wie Pappteller und Bier (das es in diesem Walmart nicht gab), einzukaufen. Als ich einen Mitarbeiter nach den Tellern frage, bekomme ich als Antwort nur „I am not responsible for that“ – das englische „Das ist nicht meine Abteilung“. Ich fühle mich an die Zeit meines Studiums zurückerinnert, schließlich gilt es auch auf dem Amt stets die Zuständigkeit prüfen. Nachdem wir den zuständigen Papptellerfachmann ausfindig gemacht haben, können wir den Einkauf fortsetzen.
Immer tiefer dringen wir nun in die unberührte Natur des hohen Nordens ein. Der Indian Summer hat hier oben zwar gerade erst begonnen, die Vegetation bietet unseren Augen aber schon jetzt paradiesische Anblicke. Ein Traum in grün, gelb und rot! Unsere Straße bahnt sich ihren Weg durch riesige Waldlandschaften, die das Sichtfeld bis zum Horizont bedecken. Bisweilen kommt uns auch ein See oder ein Berg vor die Linse.
Der nächste Halt wird beim Visitor Center des Algonquin Nationalparks eingelegt. Es zeigt sich uns ein Schauspiel, wie wir es auf dieser Reise schon unzählige Male erlebt haben: Dietmar sieht Souvenirladen, Dietmar ist weg. Seine Kinder Melina und Julian hatten ihren alten Herrn im Vorhinein sogar mit einem Airtag ausgestattet, um diesen Freigeist der Zauntechnik wenigstens jederzeit orten zu können. Aufgrund guter Führung wurde die digitale Fußfessel aber inzwischen abgeschafft. Dietmar ist da, wo der nächste Souvenirladen ist. Wir fragen uns natürlich, wo die diversen Mitbringsel alle verstaut werden sollen und kommen zu dem Schluss, dass es im Stadtweg wohl bald ein eigenes Kanadazimmer geben muss. Dietmar Hölscher, Schutzheiliger der Erinnermichs und Schlüsselanhänger.
Nun besteht die Möglichkeit, die bewaldete Gegend auf zwei Trails zu erkunden. Die Gruppe wird folglich gesplittet, eine Gruppe unter der grandiosen Führung von Angelika, die andere in der Obhut des mit Bananen bewaffneten Orga Teams. Wir bahn(an)en uns unseren Weg durch diese wilde Natur und lernen dabei allerhand Wissenswertes über die alte Holzwirtschaft in Kanada. Vor uns erheben sich wurzellose Berge, weite Moore und riesige white pines Bäume, die wohl die Geschichte der Welt erzählen könnten, wenn es ihnen nur möglich wäre. Stattdessen singen sie für uns das gleiche rauschende Lied, dass sie auch schon für die Holzarbeiter vor 200 Jahren gesungen haben und auch für die uns folgenden Generationen spielen werden. Auf einem Aussichtspunkt bietet sich uns ein atemberaubender Blick über die grün, rot, gelben Wälder, wir sehen Brauntöne, wie sie wohl nur die hier gegebene Vegetation zu Stande bringt. Natur ist eben nicht gleich Natur. Waldmann Tobi fühlt sich wohl in dieser Gesellschaft, nur mehr Tannen könnten es nach seinem Geschmack sein. „Fichte sticht, Tanne nicht“, gibt Tobi in seiner unendlichen Weisheit wieder und beantwortet damit alle von uns nicht gestellten Fragen.
Der Waldgang setzt in uns die alten Kräfte frei. Vor mir schlägt sich Lars seinen Weg durch das Unterholz, hinter mir muss den Geräuschen nach zu urteilen entweder ein Bär oder Julian seine Spuren im feuchten Lehmboden hinterlassen. Ich drehe mich um und blicke dem haarigen Ungetüm ins Gesicht, es ist Julian.
Zurück am Parkplatz drehe ich mit Flori Kriener noch eine Westernszene im neumodischen Bananenstil – die schauspielerischen Leistungen sind bahnbrechend. Nachdem wir so rund 2 Stunden in der Wildnis verbracht haben, fühlen wir uns bereits wie echte Kanadier. Zeit für ein Picknick mit Ahornsyrup und Bagels. Am East Beach, einem riesigen See inmitten dieser wunderschönen Einöde, fern ab von jeglicher Zivilisation, nehmen wir unser Mahl ein. Einige von uns zieht es sodann ins Wasser, um ein wenig die Füße zu kühlen. Mauli ruft zu einem Steine-Flitsch-Wettbewerb auf. „Mist, wieder nur 3“ hört man immer wieder von ihm. „Christiane, mach du mal“. „Ich hab das aber noch nie gemacht“, sagt sie und wirft auf Anhieb einen 5er, was Mauli etwas geknickt zurücklässt. Florian M. tritt hinter einem Baum hervor. Er sucht noch das kanadische Ahorn für sein Herbarium, wie er sagt. Was er tatsächlich hinter diesem Baum getrieben hat, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.
Die Asphaltbahn, einziges Zeichen der Zivilisation, führt uns nach Huntsville, einer kleinen Ortschaft zwischen den unendlichen Weiten der Blätter. Die Zimmer sind schnell bezogen, für manche gar zu schnell. Alex Ditz bleibt allein in der Lobby zurück. Wie ein Häufchen Elend sitzt er dort und weiß nicht wohin mit sich. Seine Zimmergenossen Marlon, Lars und Patrick haben die Zimmerkarten an sich genommen, ohne ihm Bescheid zu geben, welche Zimmernummer sie denn nun haben. Durchdringen zu diesen jungen Wilden war schon immer schwer, auf dem Handy wie in der Vernunft. So verweilt Alex zwischen Koffern und Neuankömmlingen und fristet sein zimmerloses Dasein.
Am Abend speisen mehrere von uns im Roadhouse. Auf Zimmer 307 versorgt uns Kühli noch mit Erfrischungen, sehr zum Unmut von ihrem Bettgenossen Tim0. Kühli hatte ohne sein Einverständnis eingeladen. Tobi wird frech und freut sich etwas zu sehr über das Ableben eines Altflötisten, wie es im Bananenwestern von Tenor-Trommler-Flori und meiner Person dargestellt wurde. Lothar muss den dreisten Tenorspieler daran erinnern, dass er während der Steuben Parade gänzlich von der Talentschmiede Altstimme umzingelt war. Wer sich nicht vorsieht, wird von der Alt gnadenlos niedergemacht – erst recht einzelne, freche Tenöre, die ohne ihr langrohriges Rudel reisen. Wir lachen über die geistreichen Ausflüge dieser Gesprächsrunde und fallen dann in die Federn.
Gute Nacht, wildes Land!